Affektive Bildung
«Ich will nicht begreiflich, sondern fühlbar machen. Das ist, glaube ich, im Keim der Unterscheid zwischen (…) Wissenschaft und (…) Kunst». (Musil 1981, 23) Diese Unterscheidung, die Robert Musil im Blick auf seinen Roman «Die Verwirrungen des Zöglings Törless» machte, bezeichnet präzise den Beitrag, den Dichtung bzw. Literatur in Ergänzung zur Erziehungswissenschaft zum Verständnis pädagogischer Praxis leistet. Wissenschaft begreift Phänomene, indem sie Argumente kognitiv abwägt und Begründungen liefert; Dichtung hingegen macht darüber hinaus Probleme «fühlbar», indem sie Phänomene verdichtet und in allen ihren emotionalen Auswirkungen darstellt. Dabei illustriert sie nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern ist auch imstande, relevante pädagogische Erfahrungen sui generis zu produzieren, die erst im Nachhinein wissenschaftlich analysiert werden. Zugespitzt gesagt: Wissenschaft dient der Wissenserzeugung und Wissensvermittlung, Literatur dient darüber hinaus auch der affektiven Bildung.
Introspektion und Empathie
Literatur ist zunächst eine Schule der Introspektion. Indem ich Handlungsweisen literarischer Figuren reflektiere, befrage ich mich selbst, wie ich zu diesen Handlungsweisen stehe. Diese Reflexion bestärkt meine Fähigkeit zur Introspektion und ist hilfreich auf der Suche nach der persönlichen Identität. Sie wirft Fragen auf wie: Sind auch andere Entwicklungen der Figuren möglich als die dargestellten? Unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen? Wie würde ich mich an der Stelle bestimmter Figuren verhalten? Mit welchen Folgen für die anderen Figuren und für mich selbst?
Literatur bestärkt auf der Grundlage von Introspektion auch meine Fähigkeit zur Empathie. Lesend erfahre ich Lebenswelten anderer und verstehe Perspektiven, die mir bislang fremd waren. Ich werde «dünnhäutiger für das, was anderen widerfährt» (Rieger-Ladich 2015, 10). Richard Rorty spricht in diesem Zusammenhang von einer literarisch bewirkten «Dezentrierung der Egozentrik» und bezeichnet den Roman als «Erlösung aus der Selbstbezogenheit» (Rorty 2003, 49).
Literatur hat als «intimes Erleben von Alterität» (Gumbrecht 2011, 23) ein beträchtliches und mitunter heilsames Irritationspotenzial. Sie fördert Unvoreingenommenheit und vermag Differenzverträglichkeit und Innovationsbereitschaft im Denken und Fühlen zu bewirken.
Subjektivität und Geschichtlichkeit
Ferner ist Literatur subjektiv. Sie stellt gesellschaftliche Bedingtheiten und Entwicklungen im Erleben Einzelner dar und wirkt nicht selten geradezu als Plädoyer für die Belange des Einzelnen gegen gesellschaftliche Zwänge. Auf diese Weise bestärkt sie die eigenständige moralische Urteilskraft und die Bereitschaft zu solidarischem Handeln.
Als Ausdruck dessen, wie sich gesellschaftlicher Wandel im Erleben Einzelner zeigt, kann Literatur zudem zu einem aussagekräftigen historischen Dokument werden und vermag wesentliche Beiträge zur Mentalitätsgeschichte zu leisten. Literatur ist ein Erkenntnismedium par excellence für die «Gestimmtheit» einer Epoche.
Literatur kann sogar gelegentlich auch als Seismograf künftiger Entwicklungen wirken. Insofern macht sie nicht nur Gegenwartsphänomene fühlbar, sondern ermöglicht auch die Vorausdeutung auf Zukünftiges.[2]
[2] Vgl. dazu die These von Markus Rieger-Ladich, wonach die klassischen Internatsromane (etwa von Robert Musil, Hermann Hesse, Thomas Bernhard und Georges-Arthur Goldschmidt) ein ungleich realistischeres Bild der Gefahren des Internatslebens entwerfen als einschlägige pädagogische Abhandlungen und dass sie Fälle sexualisierter Gewalt der jüngeren Zeit gleichsam vorweggenommen hätten, ja dass diese bei entsprechender Lektüre sogar hätten verhindert werden können (Rieger-Ladich 2014, 363).
Robert Musli schreibt 1937 ins Tagebuch, dass Reiting und Beineberg, die in seinem 1906 erschienenen Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" den Mitschüler Basini sadistisch quälen, die "heutigen Diktatoren in nucleo" seien" (Musil 1976, 914)
Mehrdeutigkeit, Wahrhaftigkeit und ästhetische Qualität
Literatur ist selten eindeutig. Beim Lesen Mehrdeutigkeiten, Ambivalenzen und Paradoxien zu erkennen und zu erleben, ist eines ihrer Wesensmerkmale. Auf diese Weise trägt sie zum Bewusstsein bei, dass, was ist, nicht alles ist (vgl. Adorno 1997, 364), und eröffnet stets von neuem Horizonte auf Utopisches.
Literatur als Fiktion ist imaginiertes Probehandeln. Sie kann Sachverhalte, Figuren und Handlungsverläufe nach Belieben zuspitzen, anreichern, zur Kenntlichkeit verzerren. Dadurch wird es möglich, dass sie «im Medium des Fiktionalen Aufklärung über die Welt des Realen» (Rieger-Ladich 2015, 8) betreibt. Literatur kann so gewissermassen als «wahrer» erlebt werden als die plane Beschreibung von Wirklichkeit.
Und Literatur ist sprachlich vermittelte Kunst. Sie verfügt über spezifische ästhetische Mittel, um in Ergänzung zur Erkenntnis «Fühlbarkeit» zu erzeugen: die sprachliche Gestaltung, der Stil, der Klang, der Rhythmus, rhetorische Figuren, die Wahl der Gattung und der Textsorte, Erzählmodus, Erzählperspektive, Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, die Bezugnahme auf die literarische Tradition und auf weitere Werke usw. In der Literatur gerät stets die Erlebnisqualität in den Blick, die sich aus dem jeweiligen Verhältnis von Inhalt und Form ergibt.