Isabelle Flükiger
Isabelle Flükiger (*1979) wuchs in Freiburg auf. Sie studierte Politik- und Literaturwissenschaften und lebte längere Zeit in Berlin. Ihre Romane gelten als Seismografen für das Lebensgefühl akademisch sozialisierter Dreissigjähriger und charakterisieren sich durch Witz, Ironie und poetische Sprache.
Kontext
«Bestseller» ist der vierte Roman von Isabelle Flükiger und der erste, der auf Deutsch übersetzt wurde. In seinem Zentrum steht ein Liebespaar, die Ich-Erzählerin und ihr Freund Mathieu («mein Teuerster»). Die Ich-Erzählerin arbeitet als Sekretärin in einem staatlichen Zentrum für zeitgenössische Kunst und schreibt nebenher an einem Roman, von dem sie hofft, dass er zum Bestseller wird. Sie verliert ihre Arbeitsstelle aufgrund von Einsparungen im Kulturbereich. Mathieu ist Französischlehrer, der – wie im Textausschnitt bereits angedeutet – den Machtkampf gegen einen Schüler, dessen überambitionierte und wohlsituierte Eltern und den Rektor ungerechtfertigter Weise verliert. Trotzdem gelingt den beiden am Schluss im Zeichen von Liebe und Freiheit eine Art Neuanfang.
Text
(…) Es ist 16.30 Uhr. Woanders, in einem Raum, den ich nicht kenne, ist mein Teuerster allein. Er verteidigt sich. Er bewahrt Haltung, er hat Moral, eine Form der Tugend, die ich schon bewundernswert fand, bevor ich mich in ihn verliebte. Aber seine Tugend zählt vor dem Ehrgeiz von zwei Eltern, die die-richtigen-Leute-kennen, wenig. Sie sitzen um einen ovalen Tisch herum. Mathieu dem Vater und der Mutter gegenüber; der Rektor nach vorn gebeugt. Von Zeit zu Zeit mustert er Mathieu, der sich verteidigt. Auf dem Tisch ausgebreitet die Evaluationsbögen des ganzen Jahres, Mathieu zeigt mit dem Finger auf die Kriterien und erklärt seine Noten. Man ist sich uneinig. Die Eltern berufen sich auf andere Arbeiten ihres Sohnes, die sie auf den Tisch schmettern. Eine Pause. Die Mutter fügt hinzu, Mathieu habe auch unpassende Bemerkungen ihrem Sohn gegenüber gemacht. Ohne Zeugen natürlich. Mathieu habe ihn als Dummkopf beschimpft. »Wie kann man unter solchen Umständen Fortschritte machen?«, fragen die Eltern.
»Ich habe nie etwas Derartiges gesagt«, verteidigt sich Mathieu. Es steht sein Wort gegen das des Schülers, der nicht bis drei zählen kann.
Der verströmt Unschuld, hat Akne und Tränen in den Augen. Seine Eltern bemitleiden ihn, weil er eine solche Ungerechtigkeit erfahren muss. »Es ist unglaublich, was diese Kinder schon aushalten«, sagen sie zum Rektor, als wäre Mathieu gar nicht da.
Mathieu, ruhig: »Ich bin immer objektiv geblieben. Stilfragen sind schwer zu bewerten, aber wenn Ihr Sohn die Grammatik nicht beherrscht, handelt es sich nicht mehr um Stil, sondern um nichts anderes als um die französische Sprache.« Die Anwalt-Mutter ist nicht einverstanden. Sie findet, er sei zu hart. »Auf jeden Fall mögen Sie meinen Sohn nicht, das ist offensichtlich.« Mathieu sagt, das sei gar nicht die Frage. Er sagt zu dem Schüler: »Ich habe nie gesagt, du seist ein Dummkopf. Sag deinen Eltern die Wahrheit.«
»Ich würde doch so etwas nicht erfinden ...« Der Schüler spielt mit seinem Gürtelende, dann sieht er seine Eltern aus großen, offenen Augen voller Aufrichtigkeit an.
„Diese Textinterpretationen nützen einem ja auch so wenig im Berufsleben«, sagt die Mutter als Kommentar zu einer anderen Arbeit, die sie zu schlecht benotet findet. «Seit meiner Schulzeit habe ich das nie wieder gebraucht. Überlegen Sie sich das mal!« Ein philosophischer Seufzer von ihrer Seite. Der Vater fügt hinzu: »Außerdem ist das so subjektiv...«
Mathieu, ruhig: »Es ist bis zum Abschluss ein Pflichtfach. Ich beurteile Ihren Sohn aufgrund seiner Kompetenzen in diesem Fach und nicht entsprechend seiner zukünftigen Berufspläne...«
Ein Hin und Her. Der Rektor setzt sich jetzt auf und faltet die Hände vor seinem Kinn. Er sagt, er werde sich die Arbeiten ansehen. Er fragt: »Kann ich die für ein paar Tage hier behalten?«
Der Anwalt-Vater sagt fröhlich: »Natürlich! Ich habe sie kopiert, nehmen Sie die ruhig.« Alle haben sehr wohl registriert, dass er Kopien gemacht hat.
Mathieu hat einen Kloss im Bauch. Er hält sich gerade, die Finger im Schoss verschränkt. Durchs Fenster sieht er die Jugendlichen, die laut redend die Schule verlassen. Es ist schönes Wetter. Mathieu ist allein.
(…)
Das wars. Alle stehen auf. Man gibt sich die Hände. Der Schüler wirft seinem Lehrer einen schiefen Blick zu. Er weiss, dass er gewonnen hat. Mathieu weiss das auch. Der Kloss im Bauch wird nicht mehr weggehen. Als die Eltern draußen sind, klopft der Rektor Mathieu auf die Schulter. Er sagt: »Du hast ihn vielleicht doch etwas streng benotet, oder?
»Nein«, antwortet Mathieu. (…)
Flükiger 2013 (Uebersetzung), 69-72
Fragen zur Diskussion
1. Welche Argumente und Machtmechanismen setzen die Eltern ein, um auf den Lehrer Mathieu Druck auszuüben?
2. Welche Methoden wählt der Rektor, um sein Ziel der Notenkorrektur durch den Lehrer zu erreichen?
3. Wie beurteilen Sie das Verhalten und die Gefühlslage des Schülers in dieser Gesprächssituation?
4. Wie reagiert Mathieu auf das Gespräch?
5. Inwiefern halten Sie ein solches fiktionales Gespräch für realistisch im Alltag der heutigen Schule?
6. In welchen Handlungsfeldern gemäss dem Referenzrahmen der PH Luzern ist das Textgeschehen vor allem angesiedelt?
7. Bitte nennen Sie eine bis drei Professionskompetenzen aus dem Referenzrahmen der PH Luzern, die in diesem Textausschnitt besonders zum Tragen kommen (mit Mentimeter).

Inhalte von Vimeo werden aufgrund deiner aktuellen Cookie-Einstellungen nicht angezeigt. Klicke auf “Zustimmen & anzeigen”, um zuzustimmen, dass die erforderlichen Daten an Vimeo weitergeleitet werden, und den Inhalt anzusehen. Mehr dazu erfährst du in unserer Datenschutz. Du kannst deine Zustimmung jederzeit widerrufen. Gehe dazu einfach in deine eigenen Cookie-Einstellungen.