Erika Burkart

 

 

 

 

 

Erika Burkart (1922–2010) wuchs im Freiamt im Kanton Aargau auf. Nach ihrer Ausbildung als Primarlehrerin unterrichtete sie einige Jahre, bevor sie ab 1953 als Autorin von Gedichten, Romanen und Erzählungen hervortrat. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie war mit dem Schriftsteller Ernst Halter verheiratet. 

Kontext


«Die Vikarin», im Untertitel als «Bericht und Sage» bezeichnet, ist autobiographisch angelegt. Das Buch umfasst den Zeitraum von 1930 bis Ende der 60er Jahre, als die Ich-Erzählerin Ernst Halter kennenlernt. Ein wesentlicher Teil ihrer Erinnerungen ist ihrem Einsatz als Aushilfslehrerin («Vikarin») zwischen 1942 und 1954 gewidmet. In die Erinnerungen eingeschoben ist das Zeugnis einer jungen Primarlehrerin – einer Freundin der Autorin -, die aus dem schwierigen, anscheinend vollständig auf Effizienz getrimmten Schulalltag im Jahr 2003 berichtet. Die Lehrerin verwendet zur Illustration ihrer Kritik eine Liste von hohlen, jargonhaften, gänzlich unpädagogischen Begriffen, nach denen sich die Lehrpersonen zu richten hätten.

Text

Schullandschaft 2003

Althäusern, 19. August 2003. Ich unterbreche hier meinen Bericht, um eine Wörterliste aufzuführen, die mir meine Freundin K. hat zukommen lassen. K. unterrichtet eine städtische 3. Klasse und leidet unter den persönliche Freiheit und humane Grunderkenntnisse missachtenden, zur Zeit aktuellen Schulreglementen. K. ist sanft energisch, eine beherzte junge Frau, kluge kreative Pädagogin und »kinderlieb‹. Sie erklärt, erzählt, macht die Kleinen bekannt mit den Gesetzen der Bienen, den Wundern des Weizenkorns und bedenkt mit ihnen die Rätsel der Himmelskörper, gestresste Väter und ehrgeizige Mütter versucht sie zu beruhigen. Die Un-Wörter der modernen Schul- und Psycho-Inquisition verachtet sie, weigert sich, einen Jargon zu übernehmen, in welchem eine Schule nicht gepflegt, sondern gemanagt wird, wo Kinder nervlich überfordert, durch Maschinenmissbrauch und Computerklima im eigenen Denken behindert und infolge Vernachlässigung des Gemüts und seiner Sprache vor der Zeit entwurzelt werden. Sie stören die organische Entwicklung von Lebewesen, die Zeit brauchen, Ruhe, Zuspruch, Liebe. Und wo bleibt der Humor? Das Lachen, nachdem einem das Lächeln vergangen ist. 

Kinder werden nicht mehr erzogen, sondern manipuliert. Eingefuchst auf die zeitsparenden Zauberkünste allwissender Maschinen, soll die Lehrperson ein «Know how» vermitteln, das die Jugendlichen möglichst früh tauglich macht für einen Job, der Geld einbringt, auch wenn er öd und geisttötend ist. Schuften, nicht leben, soll der Mensch - es sei denn «spasseshalber» in der Freizeit («Auszeit!»). - Brauchbar soll er werden, bis man ihn für alles brauchen kann. Streben soll er, gierig, nach Einkommen und dem Wissen, wie dieses zu steigern ist, endlos, bis dorthin, wo auch Materie sinnlos wird, ein Fetzen Papier, sogenanntes » Wertpapier», das ein irregelaufener Milliardär verwechselt mit Klosettpapier.

Die Liste ist ein aus dem Wirtschaftsmanagement und der Politik übernommenes Alphabet, das informieren soll. Angewandt auf schulische Bereiche, erweist es sich als Blendung, ja Betrug; verhandelt wird mit Begriffen, die, aufgeplustert oder zu Kürzeln verkrüppelt, häufig hohl sind. Von der eigentlichen Sache und Situation haben sie sich so weit entfernt, dass sie, kern- und substanzlos, zur Maske degenerieren. ›Einen Menschen beim Wort nehmen‹: keinesfalls bei einem dieser pseudogescheiten Aberwörter. Ich versuche mir die Verachtung der großen Schulreformer vorzustellen, der Francke, Rousseau, Pestalozzi, Basedow, Froebel, Steiner, Geheeb... Wir hören, lesen den Spuk und denken «Haus, Mutter, Kind, Zahnweh, Auge, Arbeit, Weg, Wort». - Das Wort zu retten, schlagen wir uns, wenn auch verletzt, durch das Wörtergestöber. 

Arbeitsplatzgestaltung 
Auswahlverfahren 
Basisausbildung
Betreuungskonzept
Betriebskonzept 
Beziehungsnetz 
Binnendifferenzierung 
Coaching 
Desktop
Dokumappe 
Eintretensdebatte 
Evaluationsinstrumente 
Feedback
Fremdevaluation 
Gesprächsleitfaden 
Gruppendynamik 
Individualfeedback 
Interessensbekundung 
Kernaufgabe 
Kerngeschäft 
Kick off 
Kind ist Kunde
Kits für Kids
Kits/Supporterinnen 
Klassenebene 
Kommunikations und Informationstechniken in der Schule
Kompetenzenmatrix
Konfliktbearbeitung 
Kooperationskompetenz
Kreisprojektleitung
Leitaussage
Leitbild
Leitungsprofil 
Materialbeschaffung

Menschenführung
Mentorat 
Modul 
Newsletter-Abonnement
Organisationsentwicklung
Personalgespräch 
Planung 
Potential
Projektlenkungsausschuss
Projektpartnerschaft 
Prozessgestaltung
prozessorientiert
Q-Gruppen
Qualitätsentwicklung
Qualitätssicherung
Rahmenrichtlinien
Re-Rollout 
Regenerationsfähigkeit
Rekrutierungsprozess
Ressourcen
Schlüsselqualifikation
Schulklima
Schulkultur
Schulteam 
Selbstevaluation
Softwarepakete
Standortbestimmung
Statusbericht
Steuergruppe
Supervision
Teamkultur
Themenraster
Transparenz
Updates Lernprogramm
Zeitgefäss

 (…) 

Der Entwurf einer Anti-Liste steht noch aus. Ebenfalls alphabetisch aufgeführt, könnte sie beginnen mit

Atem

Bild

Bildung

Brot

Bruder

Charakter

Charisma

Courage

 

(…)

 

Burkart 2006, 243-246 

Fragen zur Diskussion

 

1. Welche Eigenschaften kennzeichnen in der Einleitung zur Wörterliste die Schule, wie sie heute ist, und welche Eigenschaften kennzeichnen die Schule, wie sie sein sollte? 

2. Was halten Sie vom Versuch, negative Tendenzen in der Schule in eine Liste von «Unwörtern» zu fassen? Was lässt sich allenfalls gegen ein solches Vorgehen, «das Wort zu retten», einwenden? 

3. Welche Begriffe in der Negativ-Liste scheinen auch Ihnen anstössig?  

4. Inwiefern gibt es heute, aus einer Distanz von rund 20 Jahren zum Text, Begriffe, die Sie in der Negativliste ergänzen würden? 

5. Und in der unvollständigen Positiv-Liste? 

6. In welchen Handlungsfeldern gemäss dem Referenzrahmen der PH Luzern ist das Textgeschehen vor allem angesiedelt? 

7. Bitte nennen Sie eine bis drei Professionskompetenzen aus dem Referenzrahmen der PH Luzern, die in diesem Textausschnitt besonders zum Tragen kommen (mit Mentimeter). 

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